Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgeteilet (1719/51)

Vorrede

Geneigter Leser,
Verstand, Tugend und Gesundheit sind drei vornehmsten Dinge, darnach die Menschen in dieser Welt streben sollen: allein insgemein achtet man nichts weniger als diese drei. (...) Da ich von Jugend auf eine große Neigung gegen das menschliche Geschlecht bei mir gespüret, so, dass ich alle glückselig machen wollte, habe ich auch mir niemals etwas angelegener sein lassen, als alle Kräfte dahin anzuwenden, dass Verstand und Tugend unter den Menschen zunehmen möchten. (...) In der Materie, die ich jetzund abhandle, ist bisher viel Finsternis und Unordnung gewesen.

Inclined reader,
intellect, virtue and health are three of the noblest things according to which people in this world should strive: alone in general one pays attention to nothing less than to these three. (...) Since from my youth on I bear a great passion for the human race in me, so that I wanted to make all people happy/blessed, I never took a major interest in anything but in using all the powers to increase understanding and virtue among people. (...) In the matter that I now will treat, there has been much darkness and disorder.

Erstes Kapitel


Wie wir erkennen, dss wir sind, und was uns diese Erkenntnis nützet


§1. Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewusst, daran kann niemand zweifeln, der nicht seiner Sinne völlig beraubet ist; und wer es leugnen wollte, derjenige würde mit dem Munde anders vorgeben, als er bei sich befindet, könnte auch bald überführet werden, dass sein Vorgeben ungereimt sei. Denn, wie wollte er mir etwas leugnen, oder in Zweifel ziehen, wenn er sich nicht seiner und anderer Dinge bewusst wäre?

How we recognize that we are and what this knowledge benefits us
§1. We are aware of ourselves and of other things, no one who is not completely out of his mind can doubt about this; and whoever would deny it, with his mouth would pretend something different from what he finds in himself, could also soon be convicted, that his pretending is unreasonable. For how did he want to deny something, or cast doubt on it, if he was not aware of himself and of other things?