Sie lieben sich.
Aber sie können nicht heiraten.
Lotte ist die jüngste Tochter eines Pfarrers*.
Wilhelm ist Korporal. Seine Truppe hält Winterquartier im Dorf. Es ist Krieg.
Sie wissen: im Frühling geht der Krieg weiter und Wilhelm muss fort.
Doch noch ist Winter. Sie gehen spazieren, Hand in Hand. Aber oft ist es zu kalt. Dann sitzen sie zusammen in der Küche des Pfarrhauses. Lottes Vater ist oft nicht da.
Im März wird es wieder warm. Wilhelms Truppe muss weiter.
„In einem Jahr bin ich wieder hier, mein Lottchen!“ sagt er. Aber kommt er wieder? Lebt er in einem Jahr noch? Er ist Soldat. Sie weint. Er geht.
Sie wartet. Sie hofft. Sie schreibt. Manchmal kommen Briefe von ihm, von ihrem Wilhelm.
Nach einem Monat weiß sie: sie ist schwanger, sie bekommt ein Kind von ihrem Wilhelm.
Was soll sie tun? Sie ist nicht verheiratet. Ihr Vater ist Pfarrer. Sie sagt nichts. Der Vater ist ein alter Mann und sieht nicht viel. Aber die Frauen im Dorf sehen es.
Eines Abends kommt sie nach Hause und ihr Vater sitzt in der Küche und weint. „Du bekommst ein Kind!
Die Frauen im Dorf haben es mir gesagt. Du bist nicht mehr meine Tochter! Geh aus meinem Haus! Ich will dich nicht mehr sehen!“
Sie läuft vor die Tür. Die Leute aus dem Dorf sehen sie. Sie verstehen. „Du kannst im Schulhaus wohnen, Lotte! Da st ein Zimmer frei.“
„Mein Vater will mich nicht mehr sehen!“ Und ihr Wilhelm ist nicht da. Seit einem Monat bekommt sie auch keine Post mehr. Lottchen ist ganz allein. Sie liegt den ganzen Tag im Bett und weint. „Wilhelm liebt nur mich“, sagt sie. „Er hat nur mich geliebt. Keine Post mehr, das heißt: er ist tot!“
Dann kommen Lottes Schwestern zu Besuch. „Vater ist krank!“ sagen sie. „Der arme Mann! Seine Tochter bekommt ein Kind! Unverheiratet! Du hast mit diesem Soldaten … Wir wollen dich nie wieder sehen!“
„Was ist mit meinem Vater?“ Die Leute antworten nicht. Lotte steht auf. Sie läuft zum Haus ihres Vaters. Die Tür ist verschlossen. „Vater!“ ruft sie. Immer wieder. Nichts.
Da kommen vier Männer. Sie tragen einen Sarg**. Sie läuft mit den Männern ins Haus. Da liegt ihr Vater auf seinem Bett. Er ist tot. Lottes Schwestern stehen da und sehen sie an. Das ist zu viel für Lotte. Sie läuft aus dem Haus. Sie schreit: „Mein Vater ist tot! Ich habe ihn getötet!“
Die Leute bringen sie ins Schulhaus und legen sie ins Bett. Sie sagt nichts mehr. Eine Frau bleibt bei ihr.
Das ist gut so. Denn am nächsten Morgen will sie aus dem Fenster springen. Die Frau kann sie halten. Lotte nimmt ein Messer.
Die Frau kann es ihr wegnehmen. Aber es ist klar: man darf Lotte nicht mehr allein lassen.
Von Wilhelm kommt immer noch keine Post. „Der hat sicher eine andere gefunden! Die Männer sind so!“ sagen die Leute.
Lotte sagt nichts mehr. Sie will nicht mehr leben.
Ihr Bauch wird größer. Keinen Moment lässt man sie allein. Sie spricht nicht mehr. Sie weint nur.
Dann ist sie im neunten Monat.
Ihr Kind kommt auf die Welt. Es ist eine Tochter. Lotte nimmt sie in den Arm. Sie weint nicht mehr. „Wie schön du bist!“ sagt sie. „Wie dein Vater!“
Lotte scheint wieder normal. Jeden Tag geht sie, ihr Kind im Arm, im Garten des Schulhauses spazieren.
„Endlich ist es zu Ende!“ sagt sie eines Tages einer Nachbarin.
„Was ist zu Ende, Lotte?“
„Mein Leben! Ich bin tot! Endlich bin ich im Himmel! Mit meiner Tochter! Es gibt keinen Krieg mehr und keinen Tod!“
Bald kommt der Frühling und es gibt endlich Frieden im Land.
Eines Tages steht ein junger Mann am Garten. Lotte sieht ihn. „Siehst du“, sagt sie zu ihrer Tochter. „Das ist dein Vater! Da lebt er auf der Erde und kann nicht zu uns kommen!“
Wilhelm will in den Garten. „Nein, nein!“ schreit Lotte. „Komm nicht! Du bist auf der Erde und wir wollen hier bleiben, hier im Himmel!“
Die Nachbarn erklären Wilhelm die Lage. „Lotte ist wahnsinnig, aber es geht ihr gut. Lass sie, Wilhelm!“
Am Garten fließt ein kleiner Fluss. Am anderen Ufer*** steht Wilhelm jetzt jeden Nachmittag und sieht seine Lotte und seine Tochter im Garten spazieren gehen. „Ach, mein Wilhelm“, ruft Lotte dann manchmal. „Vom Himmel zur Erde, das ist so weit! Wie kommen wir wieder zusammen?“
Eines Abends treffen die Nachbarn Lotte nicht zu Hause. Soe ist nicht da. Wo kann sie sein? Sie suchen sie.
Sie finden die kleine Tochter. Sie liegt am Ufer des Flusses im Gras und schläft. Aber wo ist Lotte?
Tage später fischt man sie und ihren Wilhelm aus dem Fluss. Sie sind beide tot, ertrunken. Sie halten sich fest in den Armen. Man legt sie zusammen in ein Grab.
*der Pfarrer(=): priest **der Sarg (Särge): coffin ***das Ufer(=): bank. riverside