Alle sehen mein Herz!

Jakob ist ein Bauer, ein fleißiger, ein kluger und auch feuriger junger Mann. Er macht täglich seine Arbeit, er kennt alle seine Felder und jedes seiner Tiere, er plant gut: Sein Bauernhof floriert. Jeden Samstag geht er tanzen. Er trinkt und lacht mit den anderen. Mehr als ein Mädchen im Dorf möchte ihn gern heiraten. Nur er, er ist schon vierundzwanzig, er interessiert sich für keine.

Gute Leute arbeiten für ihn auf seinem Hof. Im Haus arbeitet auch eine junge Frau für ihn, Marie, ein, wie man sagt, gefallenes Mädchen. Sie ist nicht verheiratet, hat aber schon ein Kind von einem Mann bekommen, der dann weggegangen ist. Das Kind ist früh gestorben und sie kann arbeiten, Aber für die Leute im Dorf bleibt sie das gefallene Mädchen. Kein Mann will „so eine“ noch heiraten.

Es beginnt im Frühling: Jakob, sagen die Leute, ist nicht mehr derselbe. Er spricht immer weniger. Dann geht er auch nicht mehr tanzen. Er arbeitet noch viel. Aber abends sitzt er allein in seiner Küche. Was ist los?

„Was hast du nur, Jakob?“ fragt eines Tages Marie. Wieder sitzt er allein in der Küche bei einem Glas Bier. „Du bist jung, du hast Geld, warum gehst du nicht ins Dorf und suchst dir ein Mädchen?“ Er antwortet erst nicht. Dann sieht er sie an. „Weißt du es nicht, Marie?“ Sie setzt sich zu ihm. „Nein“.

„ich liebe dich, Marie! Du bist die schönste, die fleißigste, die klügste Frau im Dorf! Willst du mich heiraten?“ „Ja, Jakob, ich will. Ich liebe dich ach. Aber es geht nicht. Das weißt du. Ich bin so eine. Was sagen deine Brüder? Was denkst du? Im Dorf gibt es junge und reiche Mädchen für dich! Wir können nicht heiraten, Jakob!“

„Ich will keine andere“, sagt er noch. Dann geht er schlafen. Was soll er tun? Er ist ein wichtiger Mann im Dorf. Er hat den größten Bauernhof. Er hat drei Brüder, zwei Onkel und drei Tanten. Was sollen die sagen? Er kann nicht so eine junge Frau heiraten. Sie hat kein Land und kein Geld und, das sagen die Leute, sie hat keine Moral.

Jakob spricht mit seinem besten Freund über seine Liebe. „Marie ist eine gute Frau“, antwortet der, „aber es geht nicht, Jakob. Such dir eine andere! Und sprich mit niemandem über deine Liebe!“ „Natürlich nicht!“

Die Zeit vergeht. Jakob wird immer trauriger. Marie will sich eine andere Arbeit suchen. „Das ist besser für uns“, sagt sie.

Dann heiratet seine Cousine. Jakob muss zur Hochzeitsfeier kommen. Er sitzt bei der Feier und trinkt, trinkt ein bisschen zu viel. „Jakob!“ sagt da einer seiner Brüder. „Der Onkel steht am Fenster und will dich sprechen!“ Jakob geht ans Fenster.

„Hör mal Jakob! Du kannst diese Marie nicht heiraten! Das gibt einen Skandal!“ Woher weiß der Onkel von seiner Liebe? Jakob geht langsam an seinen Platz zurück. Da wartet eine Tante auf ihn. „Jakob“, sagt sie: „Du und diese Marie, das geht nicht! Schlag sie dir aus dem Kopf!“

Jakob trinkt. Sein Bruder setzt sich zu ihm. „Prost, Jakob! Und diese Marie heiratest du nicht. ist das klar?“ „Ja, ja“, Antwortet Jakob. Was ist das heute? Woher wissen alle von ihm und Marie? Jakob steht auf. „Ich bin müde. Gute Nacht!“ Er geht zur Tür. „Diese Marie!“ sagt da einer zu ihm, „schönes Mädchen! Was fürs Bett! Aber heiraten kannst du die nicht!“ Jakob geht schnell weg.

Am nächsten Morgen ist Jakob nicht in seinem Hof. Man sucht ihn im ganzen Dorf. Nichts. Man sucht ihn im Wald. Jakob ist nicht zu finden. Erst acht Tage später, in einem alten Haus in den Bergen, da findet ein Arbeiter Jakob. Er liegt auf einem Bett und sagt nichts. Es ist sehr kalt da oben. Jakob ist schon ganz blau. Zwei Männer bringen ihn ins Dorf und legen ihn in seinem Hof auf einen Tisch. „Ist er tot?“ fragt Marie. „Nein, nein!“ Man gibt Jakob ein Glas Schnaps. Dann noch eins. Ein drittes. „Er lebt!“

Aber er spricht nicht. Er hält sich die Hände vor die Brust und sagt nichts. Man bringt ihn ins Bett.

Marie sitzt bei ihm. „Jakob, ich arbeite ab morgen bei Josef im Nachbardorf. Das ist ein guter Mann und ein guter Hof. Das mit uns …“ Jakob antwortet nicht. Immer noch hält er die Hände vor die Brust.

„Jakob! Sag doch etwas!“

Er sieht sie an. Er nimmt die Hände von der Brust. „Siehst du?“

„Was?“ „Das Fenster! Ich habe ein Fenster in meiner Brust! alle können mein Herz sehen! Alle kennen meine Gefühle!“ „Ja, ja, das Fenster …“ Er schläft ein. Sie geht zu den anderen und erklärt ihnen alles. Dann geht sie fort.

Jakob bleibt in seinem Bett, wochenlang. Seine Brüder müssen die Arbeit auf dem Hof machen. Das ist zu viel für sie. Der Hof geht nicht gut. Dann, eines Tages, steht Jakob auf. Immer hält er die Hände auf seine Brust. Aber jetzt spricht er wieder mit den Arbeitern und sagt ihnen, was sie tun sollen. Er ist wieder ganz der alte: fleißig und klug. Nur bleibt er immerhin seinem Zimmer und hält, wenn einer zu ihm kommt, sich die Hände vor die Brust.